Jeanne Whalen und Sharon Begley haben untersucht, wie Mädchen im Mathematikunterricht den Abstand zu den Jungs aufholen können. Der Artikel erschien im Wall Street Journal (Eastern Edition). New York, N.Y.:Mar 30, 2005
In Leicester in England probierte Frankie Teague folgende Unterrichtsmethode in der 10. Klasse aus: Sie verdunkelte den Klassenraum, spielte ruhige Musik und gab jedem Schüler und jeder Schülerin eine Tafel und einen Stift. Danach beamte sie eine arithmetische Aufgabe an die Wand.
„Sobald Du die Antwort weißt, halte Deine Tafel hoch“, sagte sie. Diese simple Methode, dass die Schüler/innen nicht einfach nur aufzeigen oder ihr Ergebnis rufen, unterstützt besonders eine Gruppe, die in Mathematik Schwierigkeiten hat(te), die Mädchen.
Miss Teagues Lehrmethoden sind Teil der Veränderungen, die im Mathematikunterricht in England vor sich gehen. In den späten Achtzigern des letzten Jahrhunderts machte man sich dort Sorgen, dass der Unterricht in Mathematik nicht ausreichende Ergebnisse hervorbringt. So wurde ein Wechsel der Lehrmethoden propagiert, neue Bücher und Tests wurden eingeführt. Dieser Wechsel sollte allen Lernenden zugute kommen, aber die Verantwortlichen merkten schnell, dass besonders die Mädchen davon profitieren.
Die verbreitete Auffassung, dass Jungen und Männer einen „natürlichen“ Zugang zu abstrakten und technischen Fächern wie Mathematik haben, wurde also wieder mal widerlegt. Die Sozialisation spielt hier eine entscheidende Rolle – keine Überraschung, oder?
Was die Studie gezeigt hat, ist dass Kultur und Erfahrung die ererbten Eigenschaften beeinflussen kann, und zwar stärker als bisher angenommen. Bis Mitte der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts nahm England die mathematische Ausbildung von Mädchen nicht ernst. Dann kamen die neuen Antidiskriminierungsgesetze und eine Flut von Genderforschung über Gleichheit im Klassenraum brach los. Zu dieser Zeit legten die Jungs die O-Level-Prüfungen mit deutlich besseren Ergebnissen als die Mädchen ab. Gender-Experten schulten Lehrer/innen und ermutigten sie, Mädchen mehr einzubeziehen. Die Schulbücher wurden zur Vermeidung von Stereotypen überarbeitet. Mehr positive Beispiele von guten Schülerinnen in Mathematik und Naturwissenschaften fanden Einzug in die Klassen.
Das nationale Curriculum von 1988 stellte sich als erfolgbringend für Mädchen heraus. Es verlangte von allen Schülerinnen und Schülern bestimmte Kernfächer und bewahrte so die Mädchen davor, Mathematik oder Naturwissenschaften vor dem 16. Lebensjahr abzuwählen. Die Analyse mathematischer Theorien stand fortan auf dem Stundenplan. Das kam vielen Mädchen entgegen, die bei solcherart Analysen oft gut abschneiden. Jungs lieben das traditionelle Problemlösen, denn sie sehen es als Wettbewerb, wie Bildungsexperten beobachten konnten. Ein neues Prüfungsverfahren mit integriertem Analyse-Anteil tat sein Weiteres, um den Vormarsch der Mädchen zu unterstützen.
Leonard Sax (Autor des Buches „Why Gender Matters“) meint, es gäbe Hinweise, dass „girls‘ brains are built for complexity and boys‘ brains are built for speed.“ Er kommt zu dem Schluss: „There are no
differences in what girls and boys can learn.“ Die englische Politik der 90er, die Unterrichtsstunden interaktiver zu gestalten, half wiederum den Mädchen, die oft die Stilleren in der Klasse sind. 2003 erreichten 41% der Mädchen die besten Noten in Mathematik, im Vergleich dazu nur 39% der Jungs. Die Beobachtung eines Geschlechterunterschieds in der Fähigkeit, Mathematik zu betreiben, ist verschwunden.
Trotzdem – es gibt noch Probleme. Die Schülerinnen und Schüler heute studieren seltener Mathematik. Das kann sich in einigen Jahren zu einem wirtschaftlichen Problem ausweiten. Im Gegensatz zu England sind in den USA immer noch die Jungs den Mädchen voraus, wenn es um Standard-Mathematik-Tests geht.
Einige Leher in England sagen, dass sie zwar nicht genug Prüfungsdaten haben, um zu beweisen, dass das neue System besser ist. Aber sie beobachten, dass die Mädchen im Unterricht aktiver mitarbeiten und die neue Lehrmethode zu bevorzugen scheinen. Mädchen, die unter ihresgleichen Mathematik lernen konnten, fragen ihre Lehrer wieder nach dieser Unterrichtsform, wenn sie in gemischt-geschlechtlichen Unterricht zurückgekehrt sind.
Anfangs unterrichtete auch Miss Teague im Stil einer klassischen Mathe-Vorlesung: Kreide und Vortragen, Reden und Erklären. Im Laufe der Jahre wandelte sich ihr Unterrichtsstil: Sie baut jetzt mehr Spiele ein und Interaktion seitens der Schülerinnen und Schüler. Die Wände in ihrem Klassenraum zieren Mathewitze, Bilder berühmter Mathematiker/innen und Rätsel. Bunte Papierfiguren, Zylinder, Pyramiden etc. baumeln von der Decke. Optische Reize und Materialien zum Anfassen wie mathematische Kartenspiele und Puzzle finden Eingang in den Unterricht. 10 Minuten nach Unterrichtsbeginn in der 10. Klasse verteilt MIss Teague Umschläge, in denen Karten mit Aufgaben stecken. Das Thema: Prozentrechnung. Die Vierzehnjährigen breiten ihre Karten auf den Tischen aus und fangen an, Aufgaben wie diese auf Papier zu lösen: „Eine Gasrechnung beträgt 43,45 Pfund, inklusive 8% Steuern. Wie hoch ist der Betrag für die Steuer?“ Ein staatlicher Leitfaden hat sie auf die Idee mit den Tafeln gebracht. Sie sagt, dass die Tafeln schüchterne Schüler ermutigen, natürlich auch Schülerinnen, ohne die Peinlichkeit, etwas Falsches laut auszusprechen und damit das Gelächter der Mitschüler zu provozieren, (nur) der Lehrerin ihr Ergebnis zu zeigen.
Während der Tafelübung bemerkte Miss Teague ein schüchternes Mädchen, das ihre Tafel niemals hochhielt. Also kniete sie sich neben die Schülerin und ermutigte sie bei ihrer Aufgabe. „Ich sagte eigentlich nur ein paar Wörter – ‚Okay, was ist 43 mal 4?‘ — und das Mädchen fing an zu schreiben. Es war fast, als ob sie nur darauf gewartet hatte, bemerkt zu werden, um mit ihrer Arbeit anzufangen.“
Schlusswort: Die Art der Wissensvermittlung ist wichtig, nicht nur in der Mathematik, auch in der Informatik. Denn wollen wir das Potenzial, das in den Schüchternen schlummert, brach liegen lassen?
Quelle:
http://mailman.lbo-talk.org/pipermail/lbo-talk/Week-of-Mon-20050328/006386.html
Maria