Die Faltung der Welt
Der Klimawandel ist komplex, vielschichtig und global. Also: Ein Problem, ein gewaltiges Problem. Uff.
Was sollen wir tun, außer eingeschüchtert davor zu stehen?
Wir befinden uns am Ende des Zeitalters der Expansion: Die Erde kommt als System an Grenzen, und gleichzeitig wollen sich Menschen immer weiterentwickeln. These: Der verzweifelte, verständliche Ruf nach Verzicht und Rückbesinnung ist hilflos und wenig zielführend. Das Buch schlägt einen anderen Weg vor, der dieses Dilemma auflösen und dabei auch die Ungleichheitsexplosion in unserer Gesellschaft zähmen könnte. Dabei trägt die Einsicht, dass ein bisschen Verzicht hier und da dazugehört, zur differenzierten Sicht im Buch bei.
Zuerst dachte ich, das ist ein verkopftes Buch eines Theoretikers. Doch nach und nach, mit plausiblen Beispielen, bringt mich die Ideensammlung zum Nachdenken. Es könnte funktionieren. Es ist kompliziert (ich sag nur, Politik…). Wir werden sehen.
- Der Ausgangspunkt: „Unendliches Wachstum“ als Motor der Menschheit auf einem endlichen Planeten & Selbstverstärkung
- Das Dilemma: Begrenztheit vs. Dynamik
- Der Ausweg: Eine Idee, wie man beides in einem Gedankenmodell verbinden kann – um dann darauf aufbauend neue Wege zu bahnen.
Der Ausgangspunkt der Theorie sind Selbstverstärkungsprozesse. Die sind problematisch, ich sag nur exponentielles Wachstum. Nicht nur auf der Ebene von natürlichen Ressourcen wie Rohstoffen, sondern auch auf gesellschaftlicher Ebene wie ökonomisches Wachstum Richtung Monopol in Demokratien. Also lautet die Kernfrage: Wie kann man in einem endlichen System (Planet Erde) ein krasses Wachstum unterbringen? Jetzt wird’s interessant. Hier kommt die Idee der Faltung zum Tragen.
Das Prinzip heißt Faltung und könnte eine Lösung liefern, weil es unendliche Entwicklung in einer endlichen Welt zusammenbringt. Nicht Wachstum im Höher-Schneller-Weiter-Mehr, sondern Wachstum in die Diversität. Und zwar nicht theoretisch, sondern sehr praktisch – z. B. bei politischen Instrumenten wie der Unternehmenssteuer.
Die Idee ist m. E. ein interessantes Modell, einige gute praktische Ansätze, ich muss noch mal drüber nachdenken. Gut ist, dass auch Hindernisse und Schwierigkeiten diskutiert werden. So kann ich mir besser selbst ein Bild machen.
Zuerst bekomme ich einen kurzen Einblick, warum den Menschen das Wachstum so wichtig ist. Dann schlägt der Autor nach ausführlicher Einführung in die Problematik (Klima, Umweltverschmutzung, Artenschutz…) folgenden Richtungswechsel vor: Statt politisches Mikromanagement könnte man Entwicklungen durch das Setzen harter Grenzen die gesellschaftliche / wirtschaftliche Entwicklung so steuern, dass Nachhaltigkeit und Verträglichkeit „gewinnt“. Als Beispiel, dass dieses Prinzip auf der großen Skala funktioniert, dienen die Menschenrechte, auf die sich die Welt irgendwann geeinigt hat. Dadurch wurde u. a. die Sklaverei abgeschafft (ja, es gibt Ausnahmen, aber die können auf Basis der gemeinsamen Rechtebasis angegangen werden). These: Setzt man Grenzen, können sich Gesellschaft und Wirtschaft (Unternehmen) weiter entwickeln. Grenzen als Motor von Innovation und Wandel.
Bemerkenswert – hier werden auch die Menschen ernst genommen, etwa so: Hört auf, den Leuten das Gefühl zu geben, dass sie bevormundet werden. Und selbst einfach eher blöd sind… Besonders motivierend ist, dass die Ideen hier durchaus von Wohlstand inklusive einer neuen Weise der Energieversorgung ausgehen. Das klingt doch viel besser als Verzicht :-) Damit wäre es denkbar, eine neue Sicht auf Wohlstand zu etablieren – nicht nur technische Wundermaschinen, sondern ein Paradigmenwechsel, der eben nicht im reinen Verzicht besteht. Es geht nicht darum, dass wir wieder in Höhlen wohnen sollen.
Der Stil mäandert schön von sachlich zu zugewandt. Ein bisschen Theorie, Zahlen, Daten, Fakten – dann wieder anschauliche Beispiele (bereits bestehende genauso wie visionäre). Dazu noch nett gegendert – ohne Übertreibung und Doppelpunkt, dafür mit entspannter Ausgewogenheit. Gibt hier einen Sonderpunkt in der B-Note ;-)
Einer meiner Lieblingssätze aus dem Buch: „… ergodische Lösungsfindung … ist weniger planbar, aber wesentlich stabiler und genauer, wenn man die Nerven dafür hat.“ Ein schöner Satz. Ich will mich bemühen, die Nerven dafür zu haben :-) Im Grunde bedeutet es, dass aus lauter kleinen Inseln guter Ideen am Ende ein gesamter Teppich zusammenwächst, der sich schützend und genesend über die heutigen Probleme legt.
Der Autor ist promovierter Physiker und leitet die Komplexitätsforschung am Potsdamer Institut für Klimafolgenforschung. Er schlägt vor, ein mathematisches Prinzip zu betrachten, das sich in der physikalischen Realität in Systemen beobachten lässt – es funktioniert also in spezifischen Bereichen ganz gut (proof of concept).
Fazit: Ein überzeugendes Prinzip, manche Argumentation hat mich im Detail nicht abgeholt. Alles in allem lesenswert.
Themen
- Dynamische Systeme (Physik)
- Mathematische Grundlage
- Ökologie
- Ökonomie
- Demokratie
- Gesellschaft
- Innovation
- Anreize
- Komplexität
- Kipppunkte
- Situation: Eisschilde, Jetstream, Meeresströmungen,…
- …
Anders Levermann: „Die Faltung der Welt. Wie die Wissenschaft helfen kann, dem Wachstumsdilemma und der Klimakrise zu entkommen“. Ullstein 2023. 23,99 EUR (D) / 24,70 EUR (A). ISBN 978-3-550-20212-4.
Maria