Tausend Arten von Blau
Wir schreiben das Jahr 2035. Daejeon, Korea. Die Welt ist fast wie unsere und doch fiktiv. Koli, ein zertrümmerte Jockeyroboter, der durch ein Versehen mit einem verwechselten Chip menschliche Gefühle besitzt – das kann doch nicht sein?! Mit ihm galoppiert die Stute Today, bis es nicht mehr geht und sie eingeschläfert werden soll.
Zwei Schwestern: Yeonjae, die eine geborene Mechanikerin ist, aber mit Menschen nichts zu tun hat. Eunhye, an den Rollstuhl gefesselt, denn das Geld für die Transplantation künstlicher Beine ist nicht aufzubringen. Die Mutter: Bogyeong, in Trauer erstarrt um ihren verlorenen Gefährten …
Jedes Kapitel ist einer Figur gewidmet. Obwohl es im Kern um eine Familie geht, wirken die einzelnen Personen voneinander seltsam getrennt – als ob die anderen gar nicht da wären, auch wenn sie miteinander wohnen und sprechen. Durch einen Sturz auf der Rennbahn entwickelt sich langsam ein zwischenmenschliches Netz (inklusive Roboter und Pferd), das der zukünftigen Welt rund um Geld wieder die Wärme einhaucht, die einfach nur übersehen wurde.
Der Roman ist eine eher leise Geschichte und trotz der Auszeichnung im Genre Science Fiction hat er davon aus meiner Sicht gar nichts. Die Geschichte jedoch gibt den Figuren in einer sich immer rasanter drehenden kapitalistischen Welt eine Stimme. Sie drohen, vom Lauf des Alltags überfordert, abgehängt zu werden. Am Ende erzählt die Autorin von Hoffnung, Trost und der wahre Bedeutung von Glück.
Der Ton ist zurückhaltend, eher sachlich als emotional. Und doch wachsen mir die Protagonist:innen am Ende ans Herz. Eine eher ruhige Urlaubslektüre, trotz der Rettungsaktion, in der es um Leben und Tod geht – in mehrfacher Hinsicht.
Zuerst war ich ein bisschen enttäuscht, weil ich beim Thema Science Fiction etwas anderes erwartet hatte. Dann aber hat mich die Entwicklung von Yeonjae gepackt, die mit verschiedenen Menschen interagiert und langsam aus ihrer Erstarrung findet.
Fun fact: Es gibt eine Fußzeile mit einer Literaturempfehlung, die mir interessant erscheint: Ted Chiang „Der Lebenszyklus von Software-Objekten“ in: „Die große Stille“, Golkonda-Verlag.
Persönlicher Lernmoment: Aus der Geschichte habe ich gelernt, was Chuseok ist. Man wird nicht dümmer, wenn man liest ;-)
Die Autorin
Cheon Seon-ran wurde 1993 in Incheon geboren und wuchs im Stadtteil Bupyeong auf. Dort erlebte sie immer wieder die Streiks der Arbeiter von GM Korea, einem Automobilhersteller, der zum US-amerikanischen Konzern General Motors gehört. Dadurch begann sie sich zu fragen, wer vom technologischen Fortschritt eigentlich profitiert.
Cheon liest Wissenschaftsartikel als Inspiration für ihre Geschichten und leitet daraus ab, wie die Welt in der Zukunft aussehen könnte. In Ihrem Schreiben legt sie den Fokus nicht auf den technologischen Aspekt, sondern auf die Menschen und deren Emotionen.
Fazit: Leise, eindringlich werden vor allem weibliche Perspektiven dargestellt.
Cheon Seon-ran: „Tausend Arten von Blau“. Golkonda 2023. 22,- EUR (D) / 22,70 EUR (A). ISBN 978-3-96509-051-4.
Maria